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ARNOLD GEHLEN
MÄNGELWESEN MENSCH
Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern
hauptsächlich durch Mängel bestimmt ist, die jeweils im exakt biologischen Sinne als
Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d.h. als Unentwickeltes zu
bezeichnen sind: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche
Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht
geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne
übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten, und
er unterliegt während der ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz unvergleichlich
langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit anderen Worten: innerhalb natürlicher,
urwüchsiger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten der gewandtesten Fluchttiere
und der gefährlichsten Raubtiere schon längst ausgerottet sein. (...)
Er besteht aus einer Reihe von Unspezialisiertheiten, die unter
entwicklungsbiologischem Gesichtspunkt als Primitivismen erscheinen: sein Gebiß z.B. hat
eine primitive Lückenlosigkeit und eine Unbestimmtheit der Struktur, die es weder zu
einem Pflanzenfresser- noch zu einem Fleischfressergebiß, d.h. Raubtiergebiß machen.
Gegenüber den Großaffen, die hochspezialisierte Baumtiere mit überentwickelten Armen
für Hangelkletterei sind, die Kletterfuß, Haarkleid und gewaltigen Eckzahn haben, ist
der Mensch als Naturwesen gesehen hoffnungslos unangepaßt. Er ist von einer
einzigartigen, (...) biologischen Mittellosigkeit, und er vergütet diesen Mangel allein
durch seine Arbeitsfähigkeit oder Handlungsgabe, d.h. durch Hände und Intelligenz; eben
deshalb ist er aufgerichtet, "umsichtig", mit freigelegten Händen. (...)
Die Resultate der neueren Biologie geben uns die Möglichkeit, die exponierte und
riskierte Konstitution des Menschen in einen weiteren Zusammenhang zu stellen. Die
"Umwelt" der meisten Tiere, und gerade der höheren Säuger ist nicht das
auswechselbare Milieu, an das der spezialisierte Organbau des Tieres angepaßt ist,
innerhalb dessen wieder die ebenso artspezifischen, angeborenen Instinktbewegungen
arbeiten. Spezialisierter Organbau und Umwelt sind also Begriffe, die sich gegenseitig
voraussetzen. Wenn nun der Mensch Welt hat, nämlich eine deutliche Nichteingegrenztheit
des Wahrnehmbaren auf die Bedingungen des biologischen Sichhaltens, so bedeutet auch dies
zunächst eine negative Tatsache. Der Mensch ist weltoffen heißt: er entbehrt der
tierischen Einpassung in ein Ausschnitt-Milieu. Die ungemeine Reiz- oder
Eindrucksoffenheit gegenüber Wahrnehmungen, die keine angeborene Signalfunktion haben,
stellt zweifellos eine erhebliche Belastung dar, die in sehr besonderen Akten bewältigt
werden muß. (...)
Wir haben jetzt dagegen den "Entwurf" eines organisch mangelhaften, deswegen
weltoffenen, d.h. in keinem bestimmten Ausschnitt-Milieu natürlich lebensfähigen Wesens,
und verstehen jetzt auch, was es mit den Bestimmungen auf sich hat, der Mensch sei
"nicht festgestellt" oder "sich selbst noch Aufgabe": Es muß die
bloße Existenzfähigkeit eines solchen Wesens fraglich sein, und die bare Lebensfristung
ein Problem, das zu lösen der Mensch allein auf sich selbst gestellt ist, und wozu er die
Möglichkeit aus sich selbst herauszuholen hat. Das wäre also das handelnde Wesen. Da der
Mensch lebensfähig ist, müssen die Bedingungen zur Lösung dieses Problems in ihm
liegen, und wenn bei ihm die schon die Existenz eine Aufgabe und schwierige Leistung ist,
so muß diese Leistung durch die gesamte Struktur des Menschen hindurch nachweisbar sein.
Alle seine besonderen menschlichen Fähigkeiten sind auf die Frage zu beziehen: Wie ist
ein so monströses Wesen lebensfähig, und damit ist das Recht der biologischen
Fragestellung gesichert. Eine biologische Betrachtung des Menschen besteht also nicht
darin, seine Physis mit der des Schimpansen zu vergleichen, sondern besteht in der
Beantwortung der Frage: wie ist dieses mit jedem Tier wesentlich unvergleichbare Wesen
lebensfähig?
Denn schon die Weltoffenheit ist, von daher gesehen, grundsätzlich eine Belastung. Der
Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung, der
"unzweckmäßigen" Fülle einströmender Eindrücke, die er irgendwie zu
bewältigen hat (...)
Infolge seiner organischen Primitivität und Mittellosigkeit ist der Mensch in jeder
wirklich natürlichen und urwüchsigen Natursphäre lebensunfähig. Er hat also den
Ausfall der ihm organisch versagten Mittel selbst einzuholen, und dies geschieht, indem er
die Welt tätig ins Lebensdienliche umarbeitet. (...)
Der Mensch ist, um existenzfähig zu sein, auf Umschaffung und Bewältigung der Natur
hin gebaut, und deswegen auch auf die Möglichkeit der Erfahrung der Welt hin: er ist
handelndes Wesen, weil er unspezialisiert ist, und also der natürlich angepaßten Umwelt
entbehrt. Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt
Kultur, und die Kulturwelt ist die menschliche Welt. Es gibt für ihn keine
Existenzmöglichkeit in der unveränderten, in der nicht "entgifteten" Natur,
und es gibt keinen "Naturmenschen" im strengen Sinne: d.h. keine menschliche
Gesellschaft ohne Waffen, ohne Feuer, ohne präparierte und künstliche Nahrung, ohne
Obdach und ohne Formen der hergestellten Kooperation. Die Kultur ist also die "zweite
Natur" - will sagen: die menschliche, die selbsttätig bearbeitete, innerhalb deren
er allein leben kann - und die "unnatürliche" Kultur ist die Auswirkung eines
einmaligen, selbst "unnatürlichen", d.h. im Gegensatz zum Tier konstruierten
Wesens in der Welt. An genau der Stelle, wo beim Tier die "Umwelt" steht, steht
daher beim Menschen die Kulturwelt, d.h. der Ausschnitt der von ihm bewältigten und zu
Lebenshilfen umgeschaffenen Natur. Schon deswegen ist es grundfalsch, von einer Umwelt des
Menschen - im biologisch definierten Sinne - zu reden. Beim Menschen entspricht der
Unspezialisiertheit seines Baues die Weltoffenheit, und der Mittellosigkeit seiner Physis
die von ihm selbst geschaffene "zweite Natur". Hierin liegt übrigens der Grund,
warum der Mensch im Gegensatz zu fast allen Tierarten nicht geographisch natürliche und
unüberschreitbare Daseinsbereiche hat. Fast jede Tierart ist eingepaßt in ihr
klimatisch, ökologisch usw. konstantes "Milieu", der Mensch allein überall auf
der Erde lebensfähig, unter dem Pol und dem Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande,
in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe. Er ist dann lebensfähig, wenn er dort Möglichkeiten
erzeugen kann, sich eine zweite Natur zurechtzumachen, in der er dann statt in der
"Natur" existiert.
(aus: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden
1976, S.33f.)
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