|
A. ADLERS INDIVIDUALPSYCHOLOGIEWir alle kennen Situationen, in denen wir uns zurückgewiesen, erniedrigt, kleingemacht fühlen - Situationen, in denen unsere Anstrengungen und Bemühungen entwertet werden. Wir reagieren mit einem Gefühl der Minderwertigkeit, das wir entweder herunterschlucken oder zu überspielen versuchen. Manchmal trumpfen wir auch auf. Doch wenn wir dieses Gefühl nicht an den Angreifer zurückgeben können, lassen wir es häufig als Gereiztheit am Nächsten aus. Diesen Mechanismus von Kränkung und Kompensation hat Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, zum Mittelpunkt seiner psychologischen Theorie gemacht. Die wenigsten wissen, dass Adler die Begriffe "Minderwertigkeitskomplex" und "Geltungsstreben" prägte. Längst ist der "Minderwertigkeitskomplex" in die Alltagssprache eingegangen. Im populären Sprachgebrauch versteht man darunter allerdings eher den Schwachpunkt eines Menschen, der vielleicht nur auf Einbildung beruht, die Person insgesamt aber nicht sonderlich beeinträchtigt. Nach Adler jedoch ist dieses Gefühl "beinahe eine Krankheit", das die gesamte Persönlichkeit durchdringt. Heute spricht man in der Fachwelt weniger von Minderwertigkeitsgefühlen, sondern von der Selbstwertproblematik, von vermindertem, gestörtem oder fehlendem Selbstwertgefühl. Viele erfahren das Gerangel um Anerkennung, Zurückweisung und Kränkung täglich in Partnerbeziehungen, im Familienalltag, aber auch im Berufsleben. Für Arbeitslose ist das Gefühl, weniger wert zu sein, ebenso niederdrückend wie ihre ökonomische Lage, die sie vom allgemeinen Konsum ausschließt. Auch Hausfrauen leiden mehr unter der Geringschätzung ihrer Arbeit als unter der Hausarbeit selbst. Und noch schlimmer, häufig haben sie dieses Werturteil als Selbsteinschätzung übernommen. Manchmal ist das Gefühl der Wertlosigkeit so unangenehm und schmerzlich, dass wir es nicht einmal wahrhaben wollen, es nicht im Bewusstsein zulassen. Um unsere Unsicherheit nicht erleiden zu müssen, bauen wir in vieler Weise vor: durch eintrainiertes sicheres Auftreten, durch Prestige-Objekte und ein gepflegtes Äußeres. Den "Frust" drücken wir weg mit Ersatzbefriedigungen, durch Konsum, Kulturgenuss oder wechselnde soziale Beziehungen. All diese Strategien haben nur einen einzigen Grund: unser Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen und uns so vor weiterer Erniedrigung zu schützen. Alfred Adler hat diese Versuche unter dem Begriff Kompensation zusammengefasst. Im Zentrum Adlers Theorie stand das Kind: Es ist hilflos, abhängig und innerhalb der Familie untergeordnet. Unabhängig von der jeweiligen Erziehungssituation existiert "am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl", das Adlers Mitarbeiter Erwin Wexburg das "primäre Erlebnis der Urangst" genannt hat. Zwar begründete Adler diese Unterlegenheit des kleinen Kindes auch anthropologisch mit seiner Kleinheit und Hilflosigkeit, aber er betonte immer wieder, dass diese Unterlegenheit ihre Brisanz erst durch die soziale Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen bekommt: "Jedes Kind ist dadurch, dass es in die Umgebung von Erwachsenen gesetzt ist, verleitet, sich als klein und schwach zu betrachten." Dieses Gefühl der Minderwertigkeit ist ein Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, der im sozialen Vergleich mit den Erwachsenen oder Geschwistern entsteht. Er kann dem Kind aufgezwungen sein, doch kann es auch selbst seine Ziele zu hoch angesetzt haben und, wenn es scheitert, an sich selbst verzweifeln. Eine geringe Selbsteinschätzung, das Gefühl der Hilflosigkeit, entsteht schließlich auch aus dem Gefühl, verlassen und ungeliebt zu sein. Die verschiedenen Bedeutungen von Minderwertigkeitsgefühlen hat Adler begrifflich kaum unterschieden. Er sprach von Unsicherheit, Gefühlen der Unterlegenheit, Kleinheit, geringer Selbsteinschätzung, Ohnmacht - aber auch von Angst. Das Minderwertigkeitsgefühl wurde dadurch - wie auch andere Adler´sche Bezeichnungen - ein vager Oberbegriff mit dem Nachteil der Unschärfe und (Über-) Generalisierung. Weder hat er die Entstehungsbedingungen systematisch unterschieden, noch Entwicklungsstufen des Minderwertigkeitsgefühls erforscht, was immer wieder bedauert wird. Für Adler ist das kindliche Unterlegenheitsgefühl universell, es kann jedoch so stark entwickelt werden, dass es sich zur Neurose entwickelt. Daher unterscheiden sich normale und neurotische Entwicklungen für ihn nicht prinzipiell, sondern nur graduell. In der Neurose ist das Minderwertigkeitsgefühl tiefer, ausgeprägter und das Ziel der Kompensation entsprechend irrealer und starrer. Den Begriff der Kompensation hat Adler aus der Medizin und dem darwinistisch-lamarckistischen Denken in der Biologie übernommen: Er bedeutete so viel wie Ausgleich der Minderleistung eines Organs durch ein anderes oder durch erhöhte eigene Anstrengung zu besserer Leistung. Die Steigerung der Leistung durch Kompensation - eine damals umstrittene These - war für Adler auch Beleg für die Notwendigkeit, die (sozial-) darwinistische Auffassung vom Sieg des Stärkeren zu modifizieren. Durch Kompensation könne auch der Schwächere überlegen werden. Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation gehörten für Adler aufs Engste zusammen. Er sah darin ein "Grundgesetz" seelischen Lebens. Sie stehen in dialektischer Beziehung zueinander, sie bedingen sich gegenseitig in Art und Grad. Sie sind keine zwei Seelen in einer Brust, sondern Spiegelbilder, Ausdruck einer Person, einer Dynamik. So sprach er in seinem Modell von Geltungs- und Machtstreben, Sicherungstendenzen und Streben nach Vollkommenheit als Ausgleich von Unterlegenheit, zur Überwindung von Schwierigkeiten oder als Versuch, von einer "Minus-" zu einer "Plus"-Situation zu kommen. Eine dieser Abwehrformen nannte er "männlichen Protest": Mit der Geringschätzung des Weiblichen geht der angestrengte Versuch einher, zu beweisen, dass man ein Mann und keine Frau ist. Aus der untergeordneten Stellung des Kindes ergibt sich, dass es ein "Gernegroß" sein will. Es "wird gerade von solchen Erfahrungen phantasieren, die ihm von Natur aus schwierig gemacht sind". Es lebt in einer "Doppelrolle", schwankt zwischen Kleinheits- und Größenphantasien, zwischen "männlich" und "weiblich" hin und her. Kompensation kann aber auch misslingen oder übermächtig und damit zur Überkompensation werden, was nach seiner Ansicht zu Krankheit und Neurose führt. Er versuchte mit dieser Theorie die Psychoanalyse zu ergänzen und sie - ausgehend von der so genannten "Organminderwertigkeit" - auf eine somatische Basis zu stellen. Danach hatte auch Freud schon immer gesucht. Psychologisch müsse jedoch zur "objektiven Minderwertigkeit" auch das subjektive Gefühl, das Erleben von Minderwertigkeit, kommen. So stellte Adler zunächst eine psychologische Verbindung her von der "organischen Überempfindlichkeit" zur psychischen Überempfindlichkeit oder Unsicherheit, die beim Neurotiker in aggressive Gereiztheit umschlage. Der organischen Minderwertigkeit wird jedoch im weiteren Verlauf dieser Theorie nur noch der Stellenwert einer Bedingung unter anderen zugewiesen. Adler hat der Dynamik von Minderwertigkeit/ Kompensation den zentralen Stellenwert in der Entwicklung der Persönlichkeit zugeordnet und darin keinen Unterschied zur Neurosenpsychologie gesehen. Einen eigenen Begriff für das neurotische Minderwertigkeitsgefühl hatte er zunächst nicht. Er differenzierte auch nicht wirklich die unterschiedlichen Ausprägungen der Kompensation Wie sehen die Bedingungen aus, die nach Adler zu Minderwertigkeitsgefühlen führen? Ganz allgemein fördert alles, was dem Kind in der Umwelt bedrohlich, feindlich, abschreckend erscheint oder es in Abhängigkeit hält, das Gefühl der Kleinheit. Dazu gehören auch Bedingungen, die das Gemeinschaftsgefühl, oder besser: das Gefühl der Zugehörigkeit, das soziale Vertrauen, behindern. Im Einzelnen hat Adler folgende Entstehungsbedingungen genannt:
Adler und seine Anhänger waren immer gegen eine autoritäre Erziehung und gegen Strafe. Bei einem kalten oder strengen Erziehungsstil fühlt sich das Kind ungeliebt und wertlos. Sein Bedürfnis, geliebt zu werden und lieben zu können, kann es nicht entfalten. Später wird es dieses Bedürfnis bei sich und anderen abwerten. Solche Kinder sind nach Adlers Meinung misstrauisch und dem Leben gegenüber vorsichtig. Schwierigkeiten werden entweder erduldet oder bekämpft. Auch die verwöhnende Erziehung kann zu Minderwertigkeitsgefühlen führen. Zeitweise hat Adler diese "Gefahr" sogar überbetont. Verwöhnung engst das Kind durch "Liebe" und Überfürsorge ein, hält es in Abhängigkeit von einem Menschen oder räumt ihm alle Schwierigkeiten aus dem Weg. Ohne die verwöhnende Person wird das Kind unsicher, fühlt sich verlassen und hilflos. Durch Überfürsorglichkeit wird ihm die Möglichkeit genommen, selbstständig zu werden und seine Fähigkeiten auszuprobieren. In seiner späteren Zeit hatte Adler das Minderwertigkeitsgefühl als zum Menschen gehörig betrachtet und kam damit in die Nähe dessen, was existenzanalytisch Grundangst oder im Sinne Heideggers "Geworfensein" bedeutet. Allerdings gehört für Adler natürlich die kompensatorische Überwindung dazu. Anthropologisch formuliert er: "Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt." |